G. Gerber-Visser: Die Ressourcen des Landes

Cover
Titel
Die Ressourcen des Landes. Der ökonomisch-patriotische Blick in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern (1759 – 1855)


Autor(en)
Gerber-Visser, Gerrendina
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 89
Erschienen
Baden 2012: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rolf Graber

Das Buch ist eine überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Rahmen eines von Prof. Dr. André Holenstein und Prof. Dr. Christian Pfister betreuten Forschungsprojekts mit dem Titel Nützliche Wissenschaft. Naturaneignung und Politik – Die Oekonomische Gesellschaft Bern im europäischen Kontext entstanden ist. Grundlage der Analyse bildet ein Quellenkorpus von 48 nach klar definierten Kriterien ausgewählten Texten, die zwischen 1759 und 1855 von Mitgliedern und Sympathisanten der Oekonomischen Gesellschaft Berns verfasst wurden und die bisher weder durch die zeitgenössischen Akteure noch durch die Forschungsliteratur umfassend ausgewertet worden sind. Der lange Entstehungszeitraum, der sich über rund hundert Jahre erstreckt, eröffnet auch eine diachrone Perspektive, indem sich gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse in der Wahrnehmung und Beurteilung durch die jeweiligen Verfasser widerspiegeln. Die Bedeutung der systematischen Erschliessung und Analyse der Texte sieht die Autorin in einer doppelten Perspektive: Einerseits sollen die Dokumente wissenschaftshistorisch verortet, andrerseits als agrar­ und regionalgeschichtliche sowie als volkskundliche Quellen erschlossen werden. Methodisch folgt sie einem durch die neue Kulturgeschichte inspirierten «wahrnehmungsgeschichtlichen Ansatz», der davon ausgeht, dass der zeitgenössische Beobachter nicht einfach die objektive Wirklichkeit beschreibt, sondern diese aus der Perspektive seiner Zeit konstruiert, indem spezifische Werthaltungen und Beurteilungskriterien einfliessen, die wiederum durch soziale Stellung und praktische Intentionen determiniert sind. Diese Forschungsperspektive ermöglicht, die von Mitgliedern der Sozietät verfassten Dokumente als Ausdruck eines «ökonomisch­patrioti­ schen Blicks» auf Naturraum, Wirtschaft und ländliche Bevölkerung zu lesen und da­ durch das kulturelle Selbstverständnis der Autoren zu entschlüsseln.

Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Teil erfolgt eine wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung, indem Traditionsstränge, Muster und Vorlagen sowie die Programmatik der Initianten beschrieben werden. Den theoretischen Hintergrund bildet die deutsche Universitätsstatistik; das Arbeitsprogramm der Berner Ökonomen wird durch eine Vorlage der Schwedischen Akademie der Wissenschaften inspiriert. Dies verweist auf die internationale Vernetzung der Sozietät, die durch das weitläufige Korrespondentennetz Albrecht von Hallers zusätzlich gefördert wird. Der überlieferte Quellenkorpus ist der im 18. Jahrhundert sich ausbreitenden beschreibenden Statistik zuzuordnen, im Unterschied zur politischen Arithmetik, die vermehrt tabellarische Darstellungsformen bevorzugt und ebenfalls zur kameralistischen Staatswissenschaft gehört. Beide dienen der umfassenden Bestandsaufnahme sowie der politischen Beherrschung und Ordnung des Raumes im Rahmen einer Rationalisierung der Herrschaft.

Im zweiten Teil der Arbeit wird die praktische Umsetzung des Projekts «Topographische Beschreibungen» aufgezeigt. Eine Periodisierung in fünf Zeitabschnitte und eine Ordnung nach Agrarzonen ermöglicht eine differenziertere Strukturierung des umfangreichen Quellenmaterials. Etwas deplatziert wirken in diesem Abschnitt ein Exkurs zur Politischen Arithmetik am Beispiel von Jean Louis Muret und ein rezeptionsgeschichtlicher Ausblick.

Der dritte, interessanteste Hauptteil der Arbeit ist der Präsentation und Auswertung des Quellenmaterials gewidmet. Insgesamt werden vier Themenkreise untersucht: Naturraum und Naturpotential, Agrarwirtschaft, Handel und Gewerbe sowie die Bevölkerung. Theoretische Hintergrundfolie für das Kapitel zu Naturraum und Naturpotential bildet die vom Umwelthistoriker Günter Bayerl entwickelte These einer Ökonomisierung der Natur. An Fallbeispielen vermag die Autorin diese zweckrationale und utilitaristische Perspektive eindrücklich aufzuzeigen. Die Natur wird gleichsam zum Warenhaus und Ressourcenlieferanten. Ein Kerngebiet der Beobachtungen der Ökonomen ist die Landwirtschaft, zumal die Steigerung der Agrarproduktion zu den wichtigsten Zielen der Gesellschaft gehört. Innovationsreformen wie Nutzung der Brache, neue Futterpflanzen, Stallfütterung, Verwendung natürlicher Dünger, Förderung des Kartoffelanbaus sind bevorzugte Themen. Am Beobachtungsfeld der Strukturreformen wie der Einschläge und der Aufteilung der Allmenden lassen sich die Konfliktträchtigkeit, die immanenten Widersprüche und die Ambivalenzen des anvisierten Reformprogramms aufzeigen, indem die Interessen der reichen Bauern und der Besitzlosen aufeinanderprallen. Eine kontroverse Beurteilung erfährt auch die Förderung von Handel und Gewerbe, vor allem eine weitere Verbreitung der Protoindustrie, zumal die Landwirtschaft immer noch Priorität besitzt. Ein ausführliches Kapitel widmet die Autorin der Beschreibung der Bevölkerung. Die Wahrnehmung des Landvolks, die Armutsproblematik, die pädagogischen Intentionen sowie die Lebenswelt der weiblichen Bevölkerung werden hier kompetent analysiert. Besonders gut gelungen ist die Einordnung in das Spannungsfeld von Idealisierung der ländlichen Lebensweise und volksaufklärerisch­pädagogischer Sicht. Während die Idealisierung als Hintergrundfolie einer vom Tugenddiskurs inspirierten, zeitgenössischen Zivilisationskritik dient, stellt sich aus der anderen Perspektive ein pädagogisches Gefälle ein, die Beschriebenen werden zu unmündigen Kindern und Objekten der Aufklärung degradiert. Das Landvolk rückt besonders dann in den Fokus, wenn eine «Passfähigkeit» hinsichtlich der ökonomisch­patriotischen Konzepte vorhanden ist.

Insgesamt legt die Autorin eine facettenreiche Untersuchung vor, die durch systematisches Vorgehen und minutiöse qualitative und quantitative Auswertung des Quellenkorpus überzeugt. Die breiten Literaturkenntnisse zur Statistik, zum Sozietätenwesen, zur Umwelt­ und Agrargeschichte sowie zur Volksaufklärung ermöglichen eine Einordnung in grössere Zusammenhänge. Bisweilen wäre allerdings eine etwas kritischere Beurteilung der Aktivitäten der Ökonomischen Patrioten wünschbar gewesen, indem die konkreten Herrschaftsverhältnisse wie Privilegienordnung, Abgaben­ und Appropriationsstruktur sowie Verschuldung der ländlichen Produzenten und damit auch die Widerstände gegen Reformen und Reformer verstärkt thematisiert worden wären. Die teilweise affirmative Sichtweise scheint allerdings schon im Projekttitel auf, wenn von «nützlicher Wissenschaft» gesprochen wird. Entscheidend bleibt die Frage, für wen diese Wissenschaft nützlich war und wer vom propagierten Tugendkanon, vom Bauern, der nach der Vorstellung der Ökonomen zur Arbeitsmaschine umgeformt werden sollte, profitierte. Ein verstärkter Blick auf die von Rudolf Braun und Rudolf Schenda inspirierten Arbeiten zu den Verhältnissen in Zürich hätte hier weitere Aufschlüsse geliefert. Schliesslich bleibt die Arbeit stellenweise der zeitgenössischen Modernisierungsoptik verhaftet. Am Beispiel der Frage der Allmendteilungen hätten etwa die verschiedenen Rationalitäten und sozialen Logiken der beteiligten Akteure vertieft diskutiert werden können. So ist das zähe Festhalten am alten Produktionssystem nicht nur einer traditionalistischen bäuerlichen Lebenshaltung zu verdanken, sondern dient auch als Risikominimierungsstrategie, an der das Aufeinanderprallen divergierender Wirtschaftskonzepte (embedded – disembedded economy) sichtbar wird. Arbeiten zur Peasant Society und sozialanthropologische Studien vermögen dies zu belegen.

Trotz dieser Einwände ist zu wünschen, dass das flüssig geschriebene und schön gestaltete Buch breit rezipiert wird und der mustergültig erschlossene Quellenkorpus zu weiteren agrargeschichtlichen und ethnografischen Forschungen anregt. Die angefügte Dokumentation und der statistische Anhang können als Fundgrube für weitere Forschungen dienen.

Zitierweise:
Rolf Graber: Gerber-Visser, Gerrendina: Die Ressourcen des Landes. Der ökonomisch-patriotische Blick in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern (1759 – 1855). Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 89. Baden: hier+jetzt 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 66-69.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 66-69.

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